Freitag, 23. Januar 2009

1. dumm gelaufen (ab 63)

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Scheiße! Ich hab vergessen, mit dir über Tofino zu reden. Es würde dir gefallen, da bin ich sicher. Is ne wilde Mischung. Hat was von "Northern Exposure". Am Pacific Rim auf Vancouver Island an der Grenze zu Alaska.
Ein paar Natives, ein paar Wale Watchers, ein paar Drop-outs aus New York.Und die Abendsonne färbt den Strand rosa. Farben wie im Bilderbuch.Wahnsinn! Wunderschön!
Aber das Beste ist,dass ich es erleben kann.Diesmal muß ich nicht draußen bleiben. Es gibt einen Holzbohlenweg runter zum Strand. Extra für den Rollstuhlfahrer, der vielleicht niemals kommt. Was aber egal ist. Denn die Möglichkeit entscheidet. Sie wird im Bewusstsein gehalten und ist einfach da.
Aber echt am krassesten ist die ökovollkorn Bäckerei. Mit warmen koriander Brötchen und richtigem Vollkornbrot. So was habe ich vergeblich in ganz Kanada gesucht. Das kanadische Brot ist echt gewöhnungsbedürftig. Irgend so ein Sandwichwabbelzeug. Und ausgerechnet hier… irgendwo im Niemandsland.
Schließ die Augen, Denis. Schmeckst du das Meer? Blenden dich die Sterne? Hörst du den Gesang des Nordlichts am Himmel?
Tofino ist mein Seelenort. Dort wirst du mich finden. Dort werde ich im nächsten Leben ein rollstuhlgerechtes Retreat-Zentrum aufbauen.

Dort habe ich schon ein Date mit Boris. Du musst auch kommen. Du würdest uns fehlen... 

AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAA

Und... cut! Harte Schnitte! Neuer Film! - Das kennst du aber schon von mir, Dennis. Noch so ne wilde Mischung. Stakkato episch. Ein ganz neuer eigener Piri-Stil als Ausdruck meines Lebens. 
Waren halt inzwischen so viele Wechsel im Film. Die Prioritätenliste fällt da schwer. Und irgendwo gehört eh alles zusammen. Es entsteht ein Gesamtkunstwerk :-) 
Bin ich jetzt im Kinderfernsehprogramm hier, bei "Deutschland sucht den Superstar" würde ich wohl sagen, das Gesamtpaket zählt! 

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Ok! Einen Schritt zurück.
Das Vorher ist nicht unwichtig um das Nachher zu verstehen. Beginnen wir mal in der chronologisch direkten Reihenfolge. So gesehen begann die Geschichte mit meiner biologischen Geburt.
Die Geschichte beginnt in Wuppertal. Alles begann wie im Bilderbuch. Mein Vater war Chemiker, meine Mutter Krankengymnastin. Von der Geisteshaltung her waren beide stramme 68er. Aber wie es halt so geht, schlug die normative Kraft des Faktischen auch bei ihnen gnadenlos zu.
Mein Vater war bei seinem Marsch durch die Institutionen längst auf der Manageretage eines multinationalen Großkonzerns angekommen. Meine Mutter war inzwischen die Nur-Hausfrau im Hintergrund, die dem Mann beim Karrieresprung den Rücken freihielt.
Ich war das langersehnte Wunschkind meiner Eltern, nach mehreren Fehlgeburten meiner Mutter. Natürlich war ich das kleine, blondgelockte Prinzesschen meiner Eltern und besonders meines Vaters. Er genoss es, mich voller Stolz rumzuzeigen.
Bald folgte mir ein kleines Brüderlein. Und schwupps- war die Kernfamilie perfekt. Die kleine heile Familienwelt schien vollständig. Es war alles wie im Bilderbuch.
Wir haben eine ziemlich gute Pause erwischt, Denis.
Gutbürgerliche 68er- entsprechend zerrissen war der Erziehungsstil meiner Eltern. Sie schwankten zwischen dem laizer - faire im Kinderladen und bürgerlicher Höherer- Töchter-Erziehung. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb verlief meine Kindheit in den ersten Jahren völlig unbeschwert. Ich tobte mit den Nachbarjungens beim Fußballspiel, kletterte auf Bäume und tanzte im Ballettunterricht.
Bis, ja bis, ich ungefähr acht Jahre alt war.


Über Nacht bekam ich hohes Fieber. Über 40 Grad. Wochenlang. Die Eltern bangten um mein Leben. Die Ärzte waren ratlos. Bis heute weiß niemand, was das für eine mysteriöse Krankheit war, Denis. Ich bekam starke Medikamente, um wenigstens das Fieber mit Gewalt runter zu drücken. Aber das war's dann auch. Dann, genauso plötzlich, wie es gekommen war, ging das Fieber auch wieder.
Damit war alles durchgestanden, nahmen wir an. Die schwere Zeit schient vorüber. Wir erwarten, Denis, dass sich die bereits zur Gewohnheit gewordene Pause wieder einstellt. Aber irgendetwas war anders geworden. Zuerst war das nur für den krankengymnastisch geschulten Blick meiner Mutter deutlich.

In der Dunkelheit hatte ich Schwierigkeiten das Gleichgewicht zu halten. Beim Gummitwisthopsen mit meinen Freundinnen verloren wir wegen mir. Ich schwänzte immer häufiger den Turnunterricht in der Schule, weil er mir zu anstrengend war.
 Doch mit der Zeit wurden diese leichten Irritationen immer stärker. .Die Koordinationsstörungen wurden schlimmer.


Viele Bilder aus dieser Zeit bleiben in meinem Gedächtnis eingebrannt.
Bin 11 Jahre alt. Meine Lieblingsjahreszeit. Spätsommer. Ich laufe barfuß, und das Stoppelfeld piekst in meinen Füßen. Ein selbstgebauter Drache ist mein ganzer Stolz. Ich versuche zu rennen, damit er im Wind tanzt. Ich schaffe das auch,aber ich bin völlig aus der Puste. Laß mich auf den Boden plumpsen und japse nach Luft- irgendwie weiß ich, daß ich nie mehr rennen werde.
An diesem Tag rannte ich wircklich zum letzten Mal, Dennis. Ich wußte , dass ich diesen Augenblick mein Leben lang nicht vergessen werde.
Die leichten Störungen wurden zu stetigen Ausfällen. Der ganze Körper schien betroffen. Es wurde immer schwerer Bewegungen zu koordinieren. Die Sprache war betroffen. Das Gehör auch. Allmählich wurde klar, dass da wohl mit der Krankheit eine Krankheit gekommen war.
Das kleine Prinzesschen veränderte sich. Es wurde zum Sorgenkind seiner Eltern. Mein Vater erntete jetzt mitleidige Blicke. Auf einmal zeigte Papa mich nicht mehr mit stolzgeschwellter Brust herum. Beim Spielen stand ich jetzt häufig abseits. Immer seltener luden mich Klassenkameraden zu Kindergeburtstagen ein.
Ich verlor die Fähigkeit alleine zu gehen. Alleine schwankte ich und torkelte wie betrunken. Oft gafften Passanten mir dann hinterher und pöbelten mich an. Sie glaubten halt ein besoffenes, dreizehnjähriges Mädchen vor sich zu haben. Meine Mutter musste mich beim Laufen unterstützen. Mit Mutti in die Schule, mit Mutti aus der Schule, mit Mutti zu Mac Donalds. Ich wurde zum einsamen Kind. Später zum einsamen Teenager. Diese Zeit war so wichtig.
Meine Freundinnen interessierten sich für Jungs, Discos, Partys.
Aber ich verpasste das, denn ich hing am Arm von Mama. Das hatte manchmal schon etwas groteskes. Meine Mutter überspielte das einfach. Sie hielt die Fassade eisern aufrecht.

Dadurch verlor ich etwas den Bezug zur Wirklichkeit. Sogar etwas sehr. Das Groteske wurde für mich normal. Das hatte etwas tragisch-komisches.

Das war alles so krampfig. So unausgesprochen. Ein offenes Herangehen an die Krankheit und ihre Folgen war nicht möglich.
Ich war ein sehr unglückliches Kind. Ich litt unter meiner Krankheit. Meinem Zustand.
Aber eigentlich waren es nicht die Ausfälle des Körpers unter denen ich litt. Denn das was ich konnte oder auch nicht konnte, war ja für mich das Normale. Ich kannte ja nichts anderes. Es war so wie es war.
Das was mir wirklich wehtat waren die Reaktionen auf mich. Peinliches Berührtsein der anderen.  Mitleidsblicke oder offenes Sichlustigmachen.


Das Ganze sah dann  in etwa so aus:  
Meine neuen schwarzen Lackstiefel. Schwarz, knielang, mit Absatz, Glitzerlack - ein bißchen overdressed, ich gebs ja zu. Ein bißchen nuttig. Aber sind mein ganzer Stolz. Ich wollte sie schon immer haben.

Natürlich absolut gehuntauglich. Ich torkle, ich schwanke, ich hangle mich von Stützpunkt zu Stützpunkt.Aber auf die Idee, sie auszuziehen, komme ich nicht.Heute ist es für mich unfassbar.Ich kann mir einfach nicht erklären, warum ich die Dinger unbedingt behalten wollte.Leute kommen mir entgegen.Sie drehen sich um.Sie sprechen und spötteln.
Auf so hohen Schuhen müsste man laufen können, sagen sie mir. Ich glaube, erst in diesem Moment wird mir es klar. Erst jetzt nehm ich wahr, wie unnormal und unangebracht es für mich ist in solchen Schuhen laufen zu wollen.Nur weil man es normalerweise kann. Die Worte bringen mich zum Heulen.

Die nächsten paar Tage traute ich mich garnicht mehr aus dem Haus. Warum waren die anderen so grausam zu mir?
Langsam beruhigte ich mich wieder. In dieser Zeit zappte ich in einen Fernsehbericht über das Reha Zentrum in Heidelberg.
Ach war das wundervoll. Ich träumte mich weg und ich war so neidisch. Wie glücklich mussten die sein, die dort zur Schule gehen durften. Ich begriff, wie festgefahren mein Leben war. Es schien mir ausgeschlossen - jemals diese Möglichkeit zu bekommen.
Damals sah ich zum ersten Mal meine späteren Klassenkameraden, Dennis.

copyright*Piri Schmidt

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