Freitag, 23. Januar 2009

5. am Ende der Fahnenstange

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Aktuelle Gliederung

5.1 Nonne-Medaillon
Ein Bild fürs Medaillon:
In den nächsten Tagen besucht mich regelmäßig ein Pinguin. Ich bin noch etwas benommen, noch nicht voll da. Und so begreif ich erst nach ein paar Tagen, dass der Pinguin natürlich kein Pinguin ist, sondern eine Nonne. -
Das Krankenhaus, in das ich gebracht worden bin ist also katholisch.
Die Nonne schaut streng, watschelt an meinem Bett auf und ab und erzählt etwas von Todsünde. Ich habe mich von Gott abgewand, sagt sie. Mein Zustand jetzt ist die gerechte Strafe dafür, sagt sie und dass ich darum jetzt auch nicht mehr in den Himmel kommen kann.

Am liebsten würde ich sie rauswerfen. Aber ich kann nicht. Es geht nicht. Ich kann mich meiner Umwelt gegenüber nicht verständlich machen. Mein Körper reagiert nicht, meine Sprache reagiert nicht. Ich bin schutzlos und hilflos. Muss ihre Moralpredigten wehrlos über mich ergehen lassen.
Seitdem sind 'one way' Kommunikationssituationen traumatisch besetzt. Wehrlos gegen Übergriffigkeiten. Das ist Ohnmacht pur


5.2 Am Ende der Fahnenstange
Achtung! Noch kein Koan. Nach ein paar Tagen verlasse ich das Krankenhaus. Mein Zustand hat sich leicht gebessert. Kann nun unter extremer Anstrengung den Kopf heben. Nur noch minimale Kommunikation ist möglich. Keiner weiß, wie weit sich mein Zustand noch bessern wird. Die Ärzte halten Ruhe und die vertraute Umgebung für das Beste. Sie entlassen mich in die Obhut meiner Mutter


5.3 Eigentlich hat die Nonne Recht
Achtung! Bezug 5.17. Fast kommunikationsunfähig weiß ich erst jetzt, was Getrenntsein von der Welt wirklich bedeutet. Die Depression vor dem NDE war nur Peanuts.

5.4 Erste Erklärungsversuche
Wo war ich denn da gewesen? Die Frage quält mich. Wird jetzt mein ständiger Begleiter sein.

5.5 Theoriesuche geht weiter
Aber weiter gings. Ich suchte weiter. Ich las alles was mir über Nahtodesberichte und die verschiedenen Erklärversuche von Betroffenen zwischen die Finger kam. Klares Licht oder reine Bewusstheit waren nicht dabei.

Dabei sind alle Erkärungsversuche nur Annäherungen. Veritas s.m. (semba major.)
Wenn man das Geschehene benennt ist es schon in diesem Moment nicht mehr richtig wiedergegeben. Hinter jedem Erklärungsversuch steht eine bestimmte Wirklichkeit. Keine dieser Wirklichkeiten ist mehr richtig als die anderen. Keine ist mehr falsch als die anderen. Daraus folgt für mich: jede Wirklichkeit ist relativ. Denn es gibt nicht die Wirklichkeit. Trotzdem gibt es die Wahrheit. Im Kern waren sich die Beschreibungen ähnlich. Aber so wie man versucht diese Wahrheit in unserer relativen Wirklichkeit auszudrücken wird sie falsch und unrichtig.

5.6 Noch andere Theorien
Es gibt so viele Erklärungen dafür was beim Tod mit dem Geist passiert, Denis. Naturwissenschaftler beschreiben Nervenimpulse, Psychologen reden von Projektionen des Unterbewussten, Christen treffen Engel...-jeder Erklärungsansatz ist stimmig, denn jeder greift auf sein Bezugssystem, Bilder und Begriffe in denen er lebt zurück.

5.7 Wissenschaft und Nahtod Von allen Erklärungsversuchstheorien, die mir untergekommen waren, war die Theorie der reinen Wissenschaft am weitesten von meinem Erleben entfernt, z.B. Zerfall der Nervenbahnen, Transmitterstörung, Absterben der Zellen, jedenfalls Endzeit. Etwas geht kaputt. Hört auf.

5.8 Wissenschaft ist Quatsch Zu diesem Urteil gelangen die Kernaussagen der meisten Erlebnisberichte. Für die meisten steht fest, wie für mich, das, was sie erlebt haben, war so entscheidend für den weiteren Lebenslauf. Der Wendepunkt fürs ganze Leben. Ein Leben lang noch präsent. Motiviert ein Leben lang die Veränderung. Keine Endzeit, sondern Neuanfang. Der Beginn des Lebens. So viele Möglichkeiten stehen jetzt offen. Damit wird eine so große Freiheit gefunden.


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im alten Text Kapitel 5 oder 6)

5.9 Was hats gebracht?

Doch damit wusste ich nur was es nicht ist. Eine Theorie, die das Erlebte wirklich beschrieb, hatte ich immer noch nicht gefunden. Vielleicht hatte ich mir ja die falsche Frage gestellt. Statt der Frage nach seiner genauen Schublade, vielmehr die Frage was das Geschehene verändert hat. Bleibende Veränderung auslösen. Etwas neues angestoßen hat. Wenn ich schon keine Erklärung dafür habe, wo ich gewesen bin, dann bleibt jetzt noch eine Frage. Hat es mir irgendetwas gebracht? Ja hat es. Ich werde nie mehr den Jubelkrüppel spielen - geht auch gar nicht mehr anders. Als Pflegefall bin ich eindeutig kaputt. Habe keine Wahl mehr. Muss dazu stehen. Ob ich will oder nicht. Werde nicht mehr versucht Zeit oder Energie aus dem Fenster heraus zu werfen.

5.10 Kenia- Medaillon

Und wieder einmal fühle ich mich an das alte Kenia-Medaillon erinnert aus meiner Heidelberger Zeit. Wenn es schief geht, gehe ich einfach zur Botschaft. Ich kann nicht bestimmen, wohin das Wasser fließt. Keine Staudämme mehr bauen. Statt dessen die Wellenbewegung des Lebens mitmachen.

5.11 Alles eine Frage des Mutes
Jetzt wird das Ganze sogar noch getoppt. Nachdem ich dem Tod einmal schon so nah war kann ich getrost sagen, sterben kann ich immer noch. Ich habe keine Angst mehr vor meinem Tod, vor meinem Sterben... Wenn ich aber schon an diesem Punkt bin, dann muss ich auch vor nichts mehr Angst haben. Ich verliere die Furcht vor dem, was auch immer mit mir passieren wird.

5.12. Schlagertext fürs Medaillon
La la la, ob es so, oder so, oder anders kommt. So wie es kommt, so ist es recht. Es kommt sowieso nicht so, wie man es gerne möcht.

5.13 Zivis rund um die Uhr
Alles, was mich eigentlich umschmeissen müsste, macht mir keine Angst mehr. Ich kann mit allem leben. Beispiel Zivis.
Jetzt bin ich ein echter Pflegefall! Zivis rund um die Uhr. Füttern, Intimpflege, Hintern abputzen, aufs Klo setzen. Na gut, dann ist es jetzt eben das. Warum bin ich nur nicht mehr geschockt?

5.14 Wo geht man hin am Ende der Fahnenstange?
Meine ambulante Pflege kostete das Sozialamt sehr viel Geld. Ich musste täglich mit der Heimeinweisung rechnen. Ich hatte aber gar keine Zeit, um nachzudenken. Um innezuhalten. Keine Zeit zur Wahl des Weges. Einfach drauflos.
[Der freie Fall, was Denis]

So sah also die Erklärungssuche in der Praxis aus. Keine Zeit für Selbstmitleid. Einfach los, ohne Plan, ohne Konzept. Die theoretische Erklärungssuche blieb ja erfolglos. Ich weiß, Koans darf man eigentlich nicht beantworten, nur darüber meditieren. Aber den Koan beantwortete ich einfach von selbst. Kein bloßes Wortspiel meines Vaters für auswegloses Ende.

5.15 Schritt um Schritt
Über die Lösung war ich quasi gestolpert. Ich habe sie gefunden, ohne nach ihr zu suchen. Ohne nachdenken ob nach rechts oder links, nach oben oder unten, nach vorn oder zurück. Tat das nächstliegende. Das, was vor der Nase lag. Weder Zeit, noch Platz für Wertungen. Die Erfahrung, dass sie ganz unnötig sind, damit es weitergeht.

5.16 Viel Raum am Ende der Fahnenstange
Weiterlaufen können, ohne sich umdrehen zu müssen. Beim Gehen merkt man gar nicht, wie viel Weg man schon zurückgelegt hat. Wenn es einen Moment des Innehaltens gibt, dreht man sich um und sieht, wie lang der zurückgelegte Weg schon war. Man ist so vielen Möglichkeiten begegnet und konnte sie alle annehmen. Viel Platz für Neues. Und auf einmal ist da viel Raum. Ein Raum voller Möglichkeiten ohne Konzepte. Atemzug um Atemzug. Weitermachen können, ohne sich umdrehen zu müssen bedeutet große Freiheit.
copyright*piri schmidt

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