Freitag, 23. Januar 2009

9. Berlin, Berlin (ab 90)

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9.1 Alltag mit Max und den Zivis

(Auch Max studierte in Freiburg Ethnologie. Tagsüber war er meist nicht zu hause. Aber die Nerverei mit den Zivis bekommt er trotzdem mit. Entweder lud ich meinen Frust bei ihm ab oder die Jungs hatten ihre eigenen Streitigkeiten mit ihm.

Gegen Abend traf ich in der Wohnung auf Max. Dann unternahmen wir Dinge gemeinsam. Und der AWO- Zivi wurde nach hause geschickt. Die Hauszivis beanspruchte ich sehr selten. Nur zum Glühbirne einschrauben, oder so.)

9.2 Grenzüberschreitungen

(Nachts übernahm Max meine Versorgung.

Das ist natürlich eine Grenzüberschreitung, Denis. Und sie wird sich noch rächen. Meine Abhängigkeit von Max bekommt damit eine ganz neue Qualität. Doch verliebt wie wir sind merken wir das nicht.)

9.3 Ein Leben ohne Zivis?

(Sehnsüchtig sah ich am Morgen Max hinterher, wenn er zur Uni ging. Das hatten mir ja die Zivis verpatzt. Aber auch meine Gesundheitssituation hätte einen ganzen Unitag nicht mehr erlaubt. Mehr als einen halben Tag im Rolli schaffte ich immer noch nicht. Danach war ich so erschöpft, daß ich mich hinlegen mußte. Ab und zu, wenn es mir gesundheitlich gut ging, besuchte ich einige Vorlesungen.

Max und ich hielten die Zivis nicht mehr aus. Im Sommer `90 beschloss ich, aus dem Zivisystem auszusteigen. Da sich meine Berlinträume im Herbst '87 zerschlagen hatten, suchte ich nach einem Lösungsweg innerhalb von Freiburg. So wie es aussah, hätte ich gegen die Stadt Freiburg klagen müssen, um die Sozialbehörde zu zwingen, bezahlte Helferinnen zu finanzieren.
Die Beratungsstellen der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung machten mir da aber wenig Hoffnung. Meine Chancen standen nicht gut. Ein langer, zäher Kleinkrieg mit offenem Ende stand mir bevor. Ich war ziemlich verzweifelt, weil das so aussichtslos aussah.)
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.4 Karte aus Berlin

Schicksalsfügung.Noch einen Koffer in Berlin.

(Als ich von der Beratung nach hause kam, fand ich im Briefkasten eine Karte aus Berlin. Der Absender war die Wohnraumvermittlungsstelle des Studentenwerkes.
In Berlin stand ich ja noch immer auf der Warteliste für eine rollstuhlgerechte Wohnung. Nachdem ich das alles beinahe schon vergessen hatte, wurde ich nun benachrichtigt, daß diese rollstuhlgerechte Wohnung jetzt auf mich wartete.

Zuerst starrte ich etwas ungläubig auf die Karte und konnte es kaum fassen. Das erste, was ich denken konnte: Alles fügt sich, alles fügt sich... Man kriegt immer, was man sich wünscht. (Achtung! Wo wieder aufgreifen? Man kriegt nie was man sich wünscht, aber imer das was man braucht) Aufatmen! Kein jahrelanger Rechtsstreit! Noch nie war mein Berlin-Traum so wirklich.)

9.5 Ist Berlin nicht eine Nummer zu groß?

(Ich las die Karte immer und immer wieder durch. Und auf einmal wurde mir etwas flau in der Magengegend.
Auf einmal waren da Zweifel, ob Berlin nicht vielleicht doch eine Nummer zu groß sein würde.
Bestimmt würden die Anfänge nicht leicht werden.
Einen Moment lang sah es tatsächlich so aus, als würde mich der Mut vor der eigenen Courage verlassen. Aber ein Blick in das Gesicht von Max genügte – da wusste ich, es gab gar keine andere Wahl. Wir wollten doch aus diesem System aussteigen. Eigentlich kam das alles genau zum richtigen Zeitpunkt. Vielleicht könnten wir sogar zuammen ein Studium beginnen.)
[Die Antwort von Max kam ohne Zögern. Keinerlei Zweifel.Vielleicht hörte ich nur das, was ich hören wollte. Vielleicht nahm ich die Zwischentöne nicht wahr. Vielleicht wollte ja Max nur der Situation mit den Zivis entkommen. Im beengten Wohnraum (die Schuld dafür gibt er mir, aber erst in Kapitel "Die Seifenblase platzt", hier nur das Positive darstellen)]

9.6 Max ist meine Zuflucht


(Zusammen würden wir alles schaffen.

Da wusste ich, das schaffen wir. Max war ja mein Zuhause. Ich würde also mein Zuhause einfach mitnehmen. Was hätte denn da noch schiefgehen können?)

Ein Hauch von New York, New York. Der neuen Welt entgegen

(...und wieder mal ins kalte Wasser, Denis! Aber –
lalala if I could make it there, I`ll make it everywhere)

9.7 Ein neuer Anfang

Der Sonne entgegen. Vorbei an altem Panzerschrott und Grenzanlagen.

(Noch in der gleichen Nacht fuhren Max und ich nach Berlin, um die neue Wohnung zu begutachten. Dabei waren wir eigentlich schon fest entschlossen nach Berlin zu gehen. Weg von den Zivis! Aus dem engen Freiburg in die grosse weite Welt! Eine neue Station auf unserer gemeinsammen Reise stand an, das fühlten wir beide.

Wir fuhren die Nacht durch. Zogen uns ein Frühstück bei irgendeinem Mc Donalds am Wannsee und erreichten den Haupteingang der TU pünktlich als dort aufgeschlossen wurde.)

Kulturschocks. Ade du beschauliches Freiburg.

(Bei einer freundlichen Dame des Studentenwerkes holten wir unsere Wohnungsschlüssel ab. Es war Sommer und im November sollte die Altbauwohnung in Neukölln fertig renoviert sein.
Es schien angesagtere Wohngegenden in Berlin zu geben. Die freundliche Dame des Studentenwerks bemühte sich jedenfalls etwas nettes über die Wohnung zu sagen: „Eine wirklich, wirklich schöne Ecke für Neukölln. Ziemlich viel Grün, wegen der schönen Friedhöfe in der Nähe.“
Ich machte mich auf einen größeren Kulturschock gefaßt.
Aber so schlimm fanden wir es in Neukölln dann gar nicht.Sofort als wir die Wohnung das erste mal betraten, wusten wir, das war unsere Wohnung. Wir fühlten dass sie richtig für uns war.)

9.8 Schrebergartenidylle

Dies mal tobt die Großstadt. Alles so schön bunt hier.

(Im November 91 zogen Max und ich also nach Berlin. Wir genossen die Großstadt in vollen Zügen.
Berlin war schon immer etwas anders als der Rest der Republik. Eine bis zur Wiedervereinigung finanziell begünstigte kleine Blümcheninsel auf der alternative, politische Projekte blühten.)

9.9 Zivi-freie Zone

(Wegen des Viermächtestatus der Stadt gab es keine Wehrpflicht. Es gab keine deutschen Soldaten und damit keine Ersatzdienstleistenden.)

AD-Geschichte. Für Denis: meine Dakinis. Paradiesische Zustände.

(Stattdessen hatte sich 1981 aus der Kreuzberger Spontiszene im Mehringhof ein Selbsthilfeverein gegründet, der ambulante Hilfen für Behinderte organisierte. Die Ambulante Dienste e.V. arbeiteten nach den Grundsätzen der Selbstbestimmt-leben Bewegung.

Ich organisierte nun meine Assistenz mit Hilfe dieses Vereins AD selbst. Jetzt konnte ich entscheiden wer bei mir arbeitete.
Behinderte wurden nicht betreut, sondern waren selbstbestimmt und aktiv. Sie waren keine bloßen Betreuungsobjekte, sondern Assistenznehmer. Das waren für mich paradiesische Zustände.)

9.10 Mein Team
Aller Anfang ist schwer. Ohne Max wäre es nicht gegangen.

(Aber trotz allem, waren die Anfänge wie befürchtet kräftezehrend.

Das Sozialamt bezahlte die Gehälter der Helfer für 24 Stunden jeden Tag. Es war nicht einfach, die Rund-um-die-Uhr-Pflege zu Hause durchzusetzen.
Das war ein Kampf mit den Ämtern! Ohne Max hätte ich dieses Chaos nicht durchgestanden.
Nachdem die Anträge genehmigt waren, kam die Praktische Umsetzung.
Ich mußte ein Helferteam zusammenstellen und einarbeiten.
Ich lebte ja erstmal ineiner Phase zwischen den Betreuungssystemen.
Zwar betreuten mich die Zivis nicht mehr. Aber mein AD-Team in Berlin war auch noch nicht aufgebaut, und einsatzbereit. In dieser Zeit versorgte mich Max und arbeitete mein AD-Team ein.
Ich sah mich in der Rolle der Arbeitgeberin für Studenten, Schriftsteller und arbeitslose Künstler. Dadurch verhalf ich vielen Leuten zu einem Job.)

9.11 Noch ein Kardinalfehler - Max ist Teamer bei mir

Wir vermischen wieder zwei Ebenen.

(Auch nachdem ich mein eigenes Team hatte beschlossen wir, daß Max weiterhin einmal die Woche bei mir arbeitete. Das war eine perfekte Ergänzung. Max hatte ein geregeltes Einkommen. Ich hatte einen Assistenten, dem ich bedingungslos vertraute.

Der zweite Kardinalfehler, Denis,!)

9.12 Noch ein Kardinalfehler - zurück ins Studium mit Max

(Max und ich beschlossen zusammen Sozialarbeit zu studieren. Ich brauchte etwas Zeit, um mich mit diesem Gedanken anzufreunden. Die Erfahrung vom Studium in Freiburg steckte mir noch zu sehr in den Knochen. Aber der Gedanke, mit 30 endlich einen Studienabschluß in den Händen zu halten, war schon sehr verlockend. Und in Berlin hatte sich ja jetzt meine Betreuungssituation grundlegend verändert. Mit dem AD-System war nun ein Studium wieder machbar.
Auch das würde ich mit Max an meiner Seite schaffen.)

9.13 Max in allen Lebenslagen

Max schleift mich durchs Studium. Max schleift mich durch Dänemark. Max schleift mich durch die halbe Welt. Max wird meine Verbindung zur Aussenwelt. Max übersetzt. Max im Team. Max in der Freizeit. Nicht bis zur nächsten Ecke ohne Max. Kein einkaufen ohne Max.

Für Denis: eine ganz enorme Überforderung. Und... ich merkte nichts. (vergleiche das Kapitel "Die Seifenblase platzt")

9.14 Die WG

Nach und nach fanden sich alle Freiburger Freunde von Max in Berlin ein. Das war nicht geplant, sondern ergab sich einfach so.
Unsere Altbauwohnung in Neukölln wurde zu einer großen familienähnlichen Wohngemeinschaft.
Die WG wurde zum Mittelpunkt der Freiburger Exilgemeinde in der Berliner Diaspora.
Die Vorliebe von Max für ticky tacky wird schon hier sichtbar - aber nur an Leuten, was später zum Bruch führen wird. Darum erst in Kapitel "Die Seifenblase platzt"

9.15 Reisen durch die ganze Welt

Gott sei Dank nahm ich meine Heimat immer mit. Denn Max reiste immer mit.

Von Zeit zu Zeit verließen wir unser Nest. Aber nur gemeinsam. Wir beide liebten es zu reisen. Wir nutzten die Semesterferien für Reisen nach Goa, Kanada oder in die USA.

9.16 Leben nur durch Max möglich

Ich begann durch Max zu leben. Mit der Zeit hatte ich das Gefühl, ohne Max würde ich es nicht hinkriegen. Ich verlor das Zutrauen in meine eigene Kraft. Das Studium war abhängig von Max. Die Kommunikation mit Freunden war abhängig von Max. Die Betreuung war abhängig von Max.

9.17 Berlin wird kalt
Der Traum bekommt langsam Risse. Irgendwann in dieser Zeit bekam mein Traum von Merlin risse. Unbemerkt. Berlin wurde für mich nicht mehr nur die spannende Metropole. Sondern sowas wie ein Alptraum. Zu groß. Zu laut. Zu aggressiv. Die Verteilungskämpfe in Berlin waren verdammt hart. Härter als im beschaulichen Freiburg. Ecke Heinrich sagte einmal: In Berlin nimmst du automatisch eine Kampfstellung ein wenn du am Bahnhof ins Taxi steigst.

Die Stadt machte mir immer mehr angst. Sie lähmte mich. Ohne Max traute ich mich nicht mehr aus dem Haus.


Und irgendwann geschah es dann, dass Berlin mir Angst zu machen begann. Die Stadt war groß, kalt, anonym, aggressiv. Irgendwann traute ich mich ohne Max nicht mehr aus dem Haus.

9.18 Irrationale Ängste. Difuses Angstgefühl. Als ich ihm sage, ohne dich kann ich nicht leben, runzelt er die Stirn. Wie komisch, denke ich. Da müßte man doch geschmeichelt sein, wenn einem jemand sowas sagt. Er will das gar nicht hören.

Da befällt mich ein Bauchgefühl, werde ich dir zu viel.

9.19 Supermax

Nein, sagt Max. Ich bin Supermax. Mein ungutes Gefühl bleibt. Ich beruhige mich damit, dass er alt genug ist, um zu wissen, was er sagt.
Ich glaube, dass war er nicht, Denis. Aber was soll ich tun, mehr als fragen kann ich nicht. Andauernd laufe ich ihm hinterher. Irgendwann beschließe ich, dass er erwachsen ist und schon wissen muß was er tut.

9.20 Ohne jeden Zweifel
Aber ich zweifle keine Sekunde an, dass Max mich über alles liebt und er meine Zuflucht ist - der Schlimmste aller Kardinalsfehler, Denis, was?

copyright*piri schmidt

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