Freitag, 23. Januar 2009

2. Freaks (ab 82)

2.1. Der Tod vom Vater als ich 17 war.

Offiziell Herzinfarkt- aber ich weiß, er hat aufgegeben. In seinem nüchtern- wissenschaftlichen Denken fand er keine Möglichkeit, mit seinem Leid fertig zu werden.
Bild fürs Medallion: Benachrichtigung in der Schule vom Tod des Vaters.
Das Bild fürs Medallion
Die Schule ist vorbei. Wie jeden Tag warte ich darauf, dass meine Mutter mich abholt. Doch ich warte vergebens. Ich warte Stunde um Stunde. Stunde um Stunde wächst auch meine Panik. Alleine traue ich mich nicht nach Hause zu torkeln. Der Hausmeister erreicht niemanden bei mir Zuhause. Ich habe eh schon immer die Panik, vergessen zu werden... Nach Stunden holt mich eine Nachbarin ab. Sie weiß auch nicht genau, was geschehen ist, aber sie soll mich nach Hause fahren. Auch mein Bruder ist schon da. Wir wissen, etwas Schlimmes ist passiert. Am Abend kommt meine Mutter nach Hause. Sie nimmt uns in den Arm. Sie sagt, dass wir alle jetzt sehr tapfer sein müssen. Mehr muss sie gar nicht sagen. Irgendwie hatte ich alles schon geahnt. Ich beginne zu weinen.Herzinfarkt.Noch eine ganze Weile war sein Zustand im Krankenhaus relativ stabil.Meine Mutter hält ihn noch.Als sie von den Ärzten gedrängt wird, den Raum zu verlassen,verschlechtert sich plötzlich sein Zustand und er stirbt.Mein Vater ist tot. Wie soll es denn jetzt weitergehen. Nichts ist mehr wie früher. Alles ist bedeutungslos geworden. Noch in derselben Nacht kommt mir die Idee, den Dingen, die ja bedeutungslos geworden sind, eine neue Bedeutung zu geben. Dieses Ende soll ein Anfang für mich sein.

Vor längerer Zeit hatte ich im Fernsehen einen Bericht über ein Reha-Internat für Behinderte gesehen. Seitdem träumte ich manchmal von diesem Internat als unerreichbares Ziel. Etwas, das außerhalb meiner Möglichkeit lag. Denn ich machte mir keine Illusionen. Ich war nie selbstständig geworden. Ich war durch tausend Ängste gebunden und unfähig,den Alltag zu bewältigen. Außerdem war die Ordnung in meinem Leben fest gefügt. Das Internat schien Lichtjahre von mir entfernt. Außerhalb jeder Reichweite.

2.2. Tod des Vaters als Chance

Fernsehbericht übers Reha vor ein paar Monaten. Damals unerreichbar. Jetzt wird der Traum greifbar. Die Familie muß sich eh neu sortieren. Wann, wenn nicht jetzt. Die Umstände werden nie wieder so günstig sein. Das erste Mal, dass ich ins kalte Wasser springe. Verwobenheit der Dinge.
Und nun auf einmal wird mein Traum greifbar. Der Tod meines Vaters würde meine Chance werden, ins Internat nach Heidelberg zu kommen.

Das erste Mal, dass ich ins kalte Wasser springe,Denis.Das erste,aber nicht das letzte Mal.Keiner traute es mir zu.Am wenigsten ich mir selbst.Aber ich wußte,jetzt oder nie.Also sprang ich.
Was konnte schon passieren?

Zum ersten Mal erlebte ich die Verwobenheit der Dinge.

Die beste Entscheidung meines Lebens.

2.3. Sex, Drugs and Rock'n'Roll

Im Sommer '81 zog ich nach Heidelberg, um Abitur zu machen im Reha- Zentrum Nechargmünd. Die Provinz tobt und ich mit ihr. Hole die Pubertät nach. Nicht mehr am Rockzipfel der Mama. Sex, drugs and rock 'n' roll. Nächte auf Punk- Konzerten.

2.4. Leben im Rolli bedeutete für mich Unabhängigkeit und Freiheit

Damals brauchte ich nur Schiebehilfe draußen. Für mich kein Ghetto- stattdessen Rollstuhlwettrennen und Räuber-und-Gendarm Spiel mit der Nachtwache.
Ein Internat nur für Behinderte hört sich ganz schön nach Ghetto an, Denis.
Zunächst einmal war das Reha für mich ein wunderbares Mittelding.Nicht ganz alleine und auf mich selbst gestellt.Das hätte ich noch gar nicht gepackt.Dazu war ich noch viel zu alltagsuntüchtig. Noch brauchte ich die Sicherheit des Netzes,das mich auffing,wenn ich fiel.

Es war wichtig für ein 17jähriges Mädchen, nicht mehr an dem Rockzipfel seiner Mutter zu hängen.Tagsüber büffelte ich brav für mein Abi,ansonsten testete ich das Leben aus.Sex,drugs and rock'nroll.Die Provinz tobte und ich mit ihr.Das waren meine wilden Jahre.Den größten Teil meiner Freizeit verbrachte ich auf irgendwelchen Punkkonzerten. Vielleicht muß man erst seine Identität finden,bevor man sie verlieren oder aufheben kann. (Achtung vielleicht an den Schluss des Kapitels)

2.5. Ich finde meinen ersten Helden

Die zeigen mir, mit dem Behindertsein offensiv umzugehen. Ich erkenne nur, dass kaschieren. Masken tragen. Bild fürs Medallion: Wüstenwind beim Trampen durch die Wüste Afrika. Geburtsnacht bei Vollmond am Strand von Mombasa. Achtzehnter Geburtstag am Strand von Mombasa. Erinnere mich an meine Angst vor der großen weiten Welt ganz alleine. Fand meine Lösung. Was sollte schon passieren? (Bezug 3.2 + 6.4) Schlimmstenfalls zur Botschaft. Die müssen mich nach Hause schicken. Wird ein neues Medaillon-Stück. Dauert ein paar Jahre bis es wieder aktuell wird.
Medaillon: Die Grafik von Klaus Steck. Mona Lisa im Rollstuhl. Mit der Unterschrift "Nobody is perfect". Für Denis: Schon damals wusste ich - hier stimmt was nicht "everybody is perfect", wäre wohl stimmiger.

[Viele sahen das Reha als Ghetto. Heute würde ich sagen, dass ich das Reha damals brauchte, um meine Scheinidentität zu finden. Denn nur, wenn man sich seiner samsarschen Identität bewusst ist, kann ,an sie auch loslassen. Die Fixierung auf das Ego zu überwinden. – Und das Reha war peer- Group und auch peer- Identität.]


2.6. Ich beginne mich politisch zu engagieren

Mit Organisationen bei Anti- Atomkraft- Demonstrationen. Wirklich zu Hause fühle ich mich in der politischen Bewegung meiner peer-group. Die Selbstbestimmtes-Leben Bewegung. Bürgerrechtsbewegung für die politischen Interessen und Rechte von Körperbehinderten. Ein Import aus den USA. Dort wurde Anfang der 80er in Berkeley die independent living movement gegründet.

2.7. In Deutschland nennt sich die Bewegung Krüppelbewegung

Das Schimpfwort Krüppel wird umdefiniert. Alter Trick von Bürgerrechtsbewegungen. Beispiel: frauenbewegte Frauen sind Hexen, Black Panthers sind Niggers. Die Emanzipation von der Vorstellung. (Siehe queer-Diskussion) Positive Umbesetzung: wir sind nicht behindert, wir werden behindert. Gegen die: Doppelmoral. Behinderung durch gesellschaftliche Strukturen. Bild fürs Medallion: Grafik von Klaus Steck. Mona Lisa im Rollstuhl. Unterschrift: Nobody is perfect. Schon damals Zweifel. Everybody is perfect wäre stimmiger.

2.8. Freaks.

Der radikalste Teil der Krüppelbewegung beginnt sich 'Freaks' zu nennen. Titel eines amerikanischen Propagandafilms der Eugenik-Bewegung. Abstoßende Körperbehinderte werden auf einem Jahrmarkt zur Schau gestellt. Diese Gegenwelt ist böse und verbündet sich gegen die Welt der Normalos.

2.9. Wir bauen uns unser Gefängnis selber.

Wir spielen mit dem Begriff voller Selbstironie und Sarkasmus. Ich glaube nicht mehr an Boxen, als Einschub für Denis. Vertrauter Irrtum. Eigentlich wollen wir uns mit dem Begriff ja von unseren kaputten Körpern distanzieren. Wir wollten nicht auf den Körper reduziert sein. Wir wollen ja eben nicht dass man uns als kaputten Körper sieht. Doch wir erreichen gerade das Gegenteil. Grundstein zum Gefängnis. Wird zu meinem Selbstbild. Ich bin ich. Du bist du. Wir sind nicht das selbe.

copyright*piri schmidt

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